Ein Abenteuer auf Schienen mit dem Orient Silk Road Express: Wo Marco Polo auf Agatha Christie trifft
Es fährt ein eleganter Zug durch die endlosen Weiten Zentralasiens, von Samarkand bis nach Kasachstan, auf den Spuren der legendären Seidenstraße: Der Orient Silk Road Express. Ein Abenteuer auf Schienen.
27. Dezember 2024
Die zwei roten Plüschbänke und die goldenen Holzverkleidungen des Zugabteils ließen mit etwas Phantasie erwarten, dass alsbald Hercules Poirot, Agatha Christies berühmter Detektiv seinen sorgsam gepflegten Schnurrbart hereinstreckt, um den mysteriösen Mord im Orient-Express endlich aufzuklären. Tatsächlich klopft aber nur Alexander an die Abteiltür, der in diesem Zug sowohl Schaffner als auch Butler ist. In seiner dunkelblauen Uniform mit den etwas zu langen Ärmeln serviert er Tchai, schwarzen Tee im Glas, aus dem Samowar. Es ist alles ein bisschen Filmkulisse, aber der Blick durch das Fenster auf die vorbeiziehenden Karl-May-Landschaften ist großes Kino.
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Eine Zugfahrt durch Usbekistan bedeutet: eine Fahrt durch die Wüste. Mehr als zwei Drittel des Landes, das größer als Deutschland ist, werden von Gebirgen und Wüsten eingenommen. Wir rollen gerade durch die Kysylkum, die rote Wüste; die andere ist die schwarze Wüste Karakum.
Landschaft, Tee und Kekse
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Vor 700 Jahren ist hier irgendwo da draußen der vielleicht berühmteste Reisende überhaupt mit einer Karawane bedeutend unbequemer und gefährlicher unterwegs gewesen: Marco Polo. Er musste Räuber, Banditen und eine Sandstürme überstehen. Wir hingegen genießen die Landschaft, Tee und Kekse im Orient Silk Road Express, einem hochpreisigen Touristenzug auf Schienen. Die Trasse durch die endlose Wildnis wurde im 19. Jahrhundert von russischen Ingenieuren gebaut.
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Wir befinden uns auf der legendären Route der Seidenstraße, die heute durch die „Stan-Staaten“ führt, also Turkmenistan, Usbekistan, Tajikistan, Kirgistan (auch Kirgisien genannt) und Kasachstan. Im 19. Jahrhundert gehörte diese Weltgegend zum russischen Zarenreich. Und sehr zum Ärger der Briten bauten russische Militärs diese Bahn vom Kaspischen Meer durch endlose Wüsten bis nach Taschkent und weiter. Heute ist die Trasse ein Segen für Touristen. Marco Polo war gerade einmal siebzehn, als ihn sein Vater Niccolo und sein Onkel Maffeo, beide wagemutige Kaufleute, auf einen „Business-Trip“ mitnahmen. Die Reise sollte 24 Jahre dauern. Eine Tour in eine unbekannte Welt, voller Strapazen, Gefahren, Wunder, und dem Kaiser von China, der Polo nicht mehr gehen lassen wollte. Wieder zu Hause sperrten die Genueser den Weltenbummler als Spion ein. Was für eine Rückkehr! In der Zelle diktierte Polo seinem Mitgefangenen Rustichello seine Abenteuer. Daraus wurde dann der Reisebericht aller Reiseberichte. Marco Polo lebte übrigens nach seiner Freilassung weitere 25 Jahre, und zwar als glücklicher und wohlhabender Mann.
Auf den Spuren des Venezianers
„Die Seidenstraße gibt es überhaupt nicht“, sagt Herr Gabriel, ein mitreisender Schweizer, der gerade hereingekommen ist, „es hat sie nie gegeben.“ Tatsächlich war die Seidenstraße nichts als ein oft weitgefächertes Netz aus sandigen Karawanenwegen. Vom chinesischen Xian bis nach Venedig waren es 6400 Kilometer, aber es gab viele Anfangs- und Endpunkte. Auf dieser „Seidenstraße“ brachten Karawanen Gewürze, Porzellan, Seide, und 1346 die Pest nach Europa. Mit dem Wort „Seidenstraße“ hätte Marco Polo nichts anfangen können. Es stammt aus dem 19. Jahrhundert. Der deutsche Geograf Ferdinand von Richthofen taufte das Wegenetz so und dabei blieb es bis heute.
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Das Herzstück dieser „Seidenstraße“ war Samarkand. Die Stadt bot Sicherheit, Proviant und Tauschmöglichkeiten. Heute ist neben der Gräberstadt Schahe-sende der Registan-Platz die größte Attraktion Samarkands. Der beeindruckende Platz mit seinen drei riesigen Koranschulen, sogenannten Medressen, voller himmelblauer Keramikfliesen ist zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert entstanden. Mittelalterliche Geografen verliehen Samarkand Titel wie „Rom des Ostens“ oder „Perle der islamischen Welt“. Alexander der Große war hier; Dschingis Khan zerstörte die Stadt mit seinen Horden, aber ein anderer Mongole machte sie später zu seiner prachtvollen Hauptstadt: der blutrünstige Timur, auch Tamerlan genannt, in seiner Jugend wie Stalin ein Bandit, eroberte im 14. Jahrhundert ein Reich, das von Delhi bis Istanbul reichte. Seine grausame Herrschaft kostete 17 Millionen Menschen das Leben.
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Aber das war hundert Jahre nach Marco Polo und lange bevor wir am Bahnhof von Samarkand den Orient Silk Road Express besteigen. Der Zug der usbekischen Staatsbahn, 2013 gebaut, ist ein Wunderding, um das uns Marco Polo beneidet hätte. Er ermöglicht es, auf roten Plüschsitzen samt Butler riesige Flächenstaaten bequem zu bereisen, indem man nachts wie im Schlaf große Distanzen zurücklegt. Und entsteigt man morgens dem Wagon, warten Autos am Bahnsteig und Abenteuer: kirgisische Bergdörfer, türkisblaue tadschikische Bergseen, Architektur aus 1001 Nacht. Oder man feuert eine Mannschaft bei einem dörflichen Pferde-Polo-Match im tiefsten Kirgisien an, bei dem es darum geht, eine tote Ziege vom Pferd aus zu packen und sie ins gegnerische „Tor“ (ein Brunnen) zu werfen. Die Sonderzugreisen gibt es in ein paar Varianten, sie dauern immer zwei Wochen. Tickets kosten je nach Komfort zwischen 3790 und 10.800 Euro (Richtpreis, lernidee.de).
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Die Passagiere schlafen auch in Betten, die nicht schaukeln. Von 13 Nächten dieser Reise nach Almaty verbringen die Zugreisenden sechs in Hotels. Es gibt in den Wagons fünf Kategorien. Die beste und größte nennt sich Kalif. Wer sich den Kalifen leistet, reist in der First Class des Zuges; nur vier Kalif-Kabinen teilen sich einen ganzen Wagon. Auch eine Definition von Luxus: Man kann genüsslich duschen, während draußen eine lebensfeindliche Wüste vorbeizieht. Die meisten Kabinen sind für zwei Reisende gedacht, mal mit Gemeinschaftsdusche im Wagon, mal ohne. Der Orient Silk Road Express ist also kein echter Luxuszug wie der ähnlich klingende „echte“ Orient-Express, der von Venedig nach London führt, wo man sich abends fein herausputzen muss, um zum Silberbesteck zu passen.
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120 Passagiere können maximal mitreisen, in unserem Fall sind es nur 76 Gäste, die von 33 Mitarbeitern betreut werden. Janik, unser freundlicher junger Kellner aus Kursk, schwärmt von seinem Job, weil er fremde Länder erleben kann und dafür auch noch bezahlt wird. „Wenn der Wagon heftig schaukelt und wir gerade Suppe servieren“ lacht Janik, dann sind wir wie Akrobaten im Zirkus!“
Quer durch Kasachstan
In einer Agatha-Christie-Story hätte jetzt Poirot schon längst den Übeltäter überführt, wir aber durchfahren das riesige Kasachstan, das dank Ölvorkommen reichste „Stan-Land“. Zwanzig Prozent der Bevölkerung sind hier Russen, orthodoxe Christen im übrigen. Almaty ist eine moderne Zwei-Millionen-Stadt mit Shopping Malls, viel Verkehr, einem großen Eislaufstadion und einem sieben Tonnen schweren Beatles-Denkmal aus Bronze. Und so überrascht es auch nicht, im kasachischen Almaty die Christi-Himmelfahrt-Kathedrale zu finden, ein wunderschöner Holzbau, den Stalin 1929 schließen und als kommunistische Propaganda-Radiostation verwenden ließ. Erst 1995 wurde die Kirche wiedereröffnet.
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In Almaty, auch Alma-Ata genannt („ein Ort voller Äpfel“), ist für die Reisenden Endstation. Aber noch einmal lässt Marco Polo grüßen, im exotischen Basar voller Gewürze und orientalischer Geheimnisse. Herr Gabriel, der Schweizer Eisenbahnfreund, schaudert noch einmal beim Anblick des kasachischen Nationalgerichts Beschbarmak: fettes Hammelfleisch mit einer Art Lasagne und dem als Dekoration beigelegten Schafskopf. Herr Gabriel ist aber auch erleichtert: Kein Mord im Orient-Express.
Dieser Artikel erschien in der Falstaff TRAVEL Ausgabe Winter 2024/25.