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© Thomas Egli
InsiderPortrait

Der Tourismusversteher: Jürg Schmid

Reisen ist ein menschliches Grundbedürfnis. Davon ist Trendforscher und Tourismusexperte Jürg Schmid überzeugt. Im Interview spricht er über die Zukunft des Reisens.

20. Januar 2022


Neben Ihren zahlreichen Tätigkeiten sind Sie auch Präsident der Tourismusorganisation Graubünden und Chef der Luxushotelgruppe „The Living Circle“; ein Experte erster Hand also. Was glauben Sie, wohin führt die Reise in der Tourismusbranche?

Es ist eine Reise mit unbekanntem Ziel. Wir leben in einer Zeit, wo eine Dreimonatsprognose bereits als kühn und langfristig gilt. Eines scheint mir klar: Wir werden wieder reisen. Reisen ist ein menschliches Grundbedürfnis. Nach Krisen erholt sich immer zuerst der Binnenmarkt, gefolgt von erdgebundenen Reisen, also mit Bahn oder Auto; dann die vertrauten Nahmärkte, und erst dann erholen sich die Fernmärkte und das Kongressgeschäft. Die Wahrscheinlichkeit erscheint also hoch, dass gerade für den Städte- und Kongresstourismus die Durststrecke noch lang ist.

Mit welchen großen Veränderungen wird die Tourismusbranche aus Ihrer Sicht in naher Zukunft konfrontiert sein? Und wird die Digitalisierung dabei eine große Rolle spielen?

Die Normalisten sagen, es werde alles wieder wie früher, zu lernunfähig sei unsere Spezies. Die Richtungswechsler erklären, dass wir am Anfang einer Phase grundlegender Veränderung stehen. Interessant ist, dass beide Denkrichtungen gewisse gleiche Veränderungen erwarten: Ein ansehnlicher Teil der internationalen Geschäftsreisen und Seminare wird auf digitale Plattformen verlagert werden, Kongresse dürften kleiner werden und neue hybride Kombinationen erfahren. Auch hat uns die Pandemie die Bedeutung der Natur vor Augen geführt. Nach dem Virus kommt Greta Thunberg wieder. Immer mehr Konsumenten werden nachhaltigere und verantwortungsvollere Reisen fordern. Man macht noch Fernreisen, aber bewusster, weniger oft und mit längeren Aufenthalten.

Wie schätzen Sie das zukünftige Reiseverhalten der Menschen ein? Welche Reisetrends zeichnen sich ab? Und glauben Sie, dass der Trend hin zum Inlandsurlaub erhalten bleibt?

Nähe hat eine neue Bedeutung erfahren. Da bleibt etwas haften. Nahreisen und damit die Wertschätzung der Landschaftsqualität werden langfristig von einer erhöhten Nachfrage profitieren. Zuerst dürfte es aber eine Post-Corona-Reise-Euphorie geben. So stark man das eigene Land liebt, so stark fühlte man sich eingeengt. Wir wollen einfach alle mal wieder raus.

Auf Ihrer Homepage versprechen Sie: „Wir denken in Gästeströmen und Erlebnisvermarktung.“ Wie denken denn Gästeströme? Und gibt es hierbei regionale oder kulturelle Unterschiede?

Es gibt ihn nicht, den typischen Reisenden. Auch lassen sich die Reisenden nicht mehr in klassische Alterssegmente einordnen. Jeder Ort, jeder Hotelbetrieb muss die spezifischen Reisemotive seiner Gäste kennen und sich entsprechend darauf ausrichten. So funktioniert effektive Gästeansprache. Wir identifizieren für unsere Kunden diese Gästeflüsse und sprechen diese präzise durch digitale Kommunikation an.

Was muss ein Land, eine Region, ein Ort oder ein Tourismusbetrieb Gästen bieten, um ihren Wünschen und Bedürfnissen auch weiterhin gerecht zu werden?

Eines ist unverändert: Gäste wollen Qualität und ein Angebot antreffen, das ihre Erwartungen leicht übertrifft. Gäste wollen eine Erfahrung, ein Erlebnis. Es gilt also, Momente mit Erlebnispotenzial anzubieten; ganz einfach darum, weil es Erlebnisse sind, die zu Erinnerungen führen. Und Erinnerungen sind das Fundament von Kundenbindung. Das Hotel „Castello del Sole“ im Tessin bietet ein Candle-Light-Dinner mitten im Reisfeld an, organisiert Fliegenfischen-Anfängerkurse oder lässt die Gäste bei der Weinernte mittun. Das sind Momente mit Erlebnispotenzial.

Glauben Sie, dass der Massentourismus aussterben wird und auch hier der Slogan „Qualität vor Quantität“ gelten wird?

Ich hoffe es ganz fest. Die Realitäten des Wachstums der Weltbevölkerung, der zunehmenden Mittelschicht mit Reisebudgets in China oder Indien und auch die ökonomische Bedeutung des Tourismus lassen mich aber anderes befürchten. Die Größe der Reisegruppen dürfte sich jedoch für längere Zeit ändern. Der Trend hin zu Individualreisen und Kleingruppenreisen erfährt gerade eine pandemische Beschleunigung.

Glauben Sie, dass die Tourismusbranche im Alpenraum eine neue strategische Ausrichtung anstreben soll?

Der Alpenraum muss sich von der Winterabhängigkeit befreien – ganz einfach auch darum, weil die Klimarealität zu kürzeren Saisons und der demografische Wandel zu weniger Skifahrern führen. Den Sommer und sanftere Bewegungsformen zu gewinnen muss das Ziel sein! Dieser Winter hat’s gezeigt: Winterwandern, Schneeschuh laufen und auch Langlauf haben überproportional zugelegt.

Wie schätzen Sie die Zukunft des Alpentourismus ein? Erlebt der Bergsport einen neuen Hype?

Wandern ist sexy und Kreuzfahrten sind aktuell gänzlich unpopulär. Die Nähe zu großen Zentren, die Sehnsucht nach Natur – viele Grundfaktoren sprechen für eine solide Zukunft des Alpentourismus. Ich bin überzeugt, dass naturnahe Erlebnisse stark zulegen werden. Mit dem Wildhüter beim Sonnenaufgang losziehen und den Steinbock entdecken oder einfach mehr über Fauna und Flora erfahren: Solche persönlichen und individuellen Erlebnisse sind die Zukunftswege des alpinen Tourismus. Neuerdings wird am Ferienort aber auch gearbeitet, die Trennung von Arbeits- und Freizeitwelt löst sich auf. „Workation“ wird den ländlichen Regionen ein neues touristisches Boomsegment bescheren.

Wandern ist sexy! Davon sind auch große Modemarken überzeugt, die neuerdings spannende Outdoor-Gear führen, wie etwa Gucci. ©Pexels/Ben Maxwell

Können Sie uns abschließend noch konkrete Vorzeigebeispiele nennen, wie Sie einzelne Kunden betreut haben beziehungsweise welche erfolgreichen Konzepte Ihre Agentur bereits umgesetzt hat?

Tourismusdestinationen erkennen die Notwendigkeit, sich auf die neue Realität einzustellen. Wir begleiten aktuell viele Destinationen durch den Strategieerneuerungsprozess. Ein Herzblut-Projekt ist auch die Entwicklung neuer Seminarinfrastrukturen und -formate für einen Kunden. Wir alle haben ja auch die Grenzen der Videotools erlebt - Empathie wurde zum Fremdwort. Kreativitäts-, Teambuilding- und Strategieseminare stehen vor einer Boomphase. Gefragt sind Infrastrukturen mit Inspirationspotenzial und die Kombinierbarkeit von In- und Outdoor.

Fischen liegt im Trend - smarte Hotels bieten passende Kurse an, etwas das Hotel "Castello del Sole" im Tessin. ©Pexels/Taryn Elliott

Jürg Schmid

  • Steckenpferd
    Als selbstständiger Unternehmer führt Schmid die Marketing- und Kommunikationsagentur Schmid, Pelli & Partner AG mit Sitz in Zürich. schmidpellipartner.ch
  • Vergangenheit
    Von 1999 bis 2017 war er Direktor von Schweiz Tourismus. Die weltweite Positionierung und Vermarktung der Schweiz als Ferien-, Reise- und Kongressland war sein Kernaufgabenbereich.
  • Neue Projekte
    Als Verwaltungsratspräsident von „The Living Circle“ verantwortet Schmid u. a. die Fünf-Sterne-Hotels „Storchen Zürich“ und „Castello del Sole“ in Ascona. Die Luxushotel- Kollektion wurde im Frühjahr 2017 gegründet.
  • Aushängeschild
    Neben diesen Tätigkeiten zeichnet er weiters für die Ferienregion Graubünden mit dem touristischen Aushängeschild St. Moritz verantwortlich.
  • Privat
    Jürg Schmid ist verheiratet und Vater von drei Kindern. Seine Urlaube verbringt er u. a. gerne an der Lenzerheide.

Dieser Artikel erschien in der Falstaff TRAVEL Ausgabe Sommer 2021.

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