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© Claus Sendlinger
InsiderNachhaltigkeitPortrait

Der Visionär: Claus Sendlinger

Reiseexperte, Vordenker und Gründer der Design Hotels Claus Sendlinger im Falstaff TRAVEL Gespräch über die Zukunft der Tourismusbranche.

30. Dezember 2021


Anfang der 90er-Jahre gründete er die Dachmarke Design Hotels, zu einem Zeitpunkt, als alle sagten: „Das funktioniert doch nie.“ Sie irrten, und Claus Sendlinger machte vor, was Steve Jobs später so definierte: „Think different.“ Anders denkt der Reiseexperte auch heute noch. Ein Gespräch darüber, wie wir in Zukunft unterwegs sein werden – und warum sich Sendlinger selbst als Laborratte sieht.

Herr Sendlinger, Sie sind seit 30 Jahren Vordenker einer Branche, die zunehmend unter Druck gerät – nicht zuletzt aufgrund der Pandemie und des Rufs nach mehr Nachhaltigkeit. Wohin geht die Reise?

Während des Lockdowns hat jeder einen Lebens-Check gemacht: Ist das jetzt alles – oder geht da noch was? Wir müssen die Welt neu denken. Im Moment sind die Systeme mit einem Heftpflaster repariert, keiner hat den Mut, alles neu aufzusetzen. Vor 20 Jahren habe ich schon versucht, Nachhaltigkeit bei den Design Hotels reinzubringen, und bin damit nicht durchgekommen.

Warum?

Die Hotels, für die es selbstverständlich war, nachhaltig zu agieren, wollten daraus gar keinen Profit schlagen. Und die anderen wollten darüber sprechen, was man tun sollte, ohne es selbst zu machen. Und dann geht’s in unserer Welt immer um gewisse Gütesiegel, Prädikate, Zulassungen. Wenn man tiefer in das Thema einsteigt, kann man das nicht ernst nehmen.

Wann hat es bei Ihnen persönlich klick gemacht?

Vor etwa fünf Jahren, als ich bei den Design Hotels ausgestiegen und als alleinerziehender Vater – die Kinder waren fünf und neun Jahre alt – nach Ibiza auf eine Farm gezogen bin. Da habe ich mich mit regenerativer Landwirtschaft beschäftigt, und mit so unsexy Fragen wie „Wo geht der Müll hin?“ Es war für uns alle erdend. Festivals wie Burning Man, Summit at Sea oder Wonderfruit haben mich geprägt, genauso wie diverse Architektur- und Kunstbiennalen. In dieser Schnittmenge ist die Idee zu meinem aktuellen Projekt „Slow“ gereift. Die Pandemie war ein Turbolader für das Bedürfnis, ausbrechen zu wollen. Ich glaube, wir sind alle bereit für etwas Neues.

Was macht „Slow“ anders?

Mit den Design Hotels bin ich vor fast 30 Jahren angetreten, authentische und einzigartige Plätze zu kreieren. Das wurde von den großen Gruppen letztlich übernommen. „Slow“ sollte keine neue nachhaltige Hotelgruppe werden. Die Plätze, an denen wir arbeiten, sind dafür einfach auch zu unterschiedlich: „La Granja“, die Farm auf Ibiza; ein innerstädtischer Campus in Berlin, der das Arbeiten neu definiert; ein Treehouse in Mexiko und eine Art Rückzugsort in Lissabon. „Slow“ ist für mich der Überbegriff für das Mindset einer neuen Avantgarde mit holistischem Lifestyle.

©Claus Brechenmacher & Reiner Baumann

 

Wie können wir uns das konkret vorstellen?

Auf einem Areal bei Lissabon bauen wir gerade ein Kollektiv auf: eine 20 Hektar große biodynamische Landwirtschaft mit Obstbäumen, Gemüseanbau und Heilpflanzen. Dazu gehören 50 Häuser, die nach der Fertigstellung verkauft werden sollen. Des Weiteren gibt es drei Restaurants und 48 Zimmer mit jeweils einer Fläche zwischen 25 und 100 Quadratmetern. Es sind einfache Unterkünfte für „Artists in Residence“ darunter, und Plätze für Kunsthandwerk und Bildung. Ich glaube, dass sich das Schulsystem, wie wir es kennen, für eine gewisse Schicht an Leuten in den nächsten fünf Jahren dramatisch verändern wird. Die Kinder werden weniger Zeit in der Schule verbringen und stattdessen andere Sachen lernen – und das um einiges effizienter.

Nach dem Motto „Life is a journey“?

Idealerweise gäbe es zehn von solchen Community-Projekten – ein oder zwei auf jedem Kontinent. Und ein neues Ownership- oder Sharingmodell, wo wir zwischen den Orten mit unseren Freunden hin- und herreisen. Wir wollen einen Ort entwickeln, an dem Leben anders funktioniert als bisher, und wo in einem neuen Nomadentum alle Bedürfnisse über Hospitality realisiert werden. Ich bin ja immer meine eigene Laborratte: Ich lebe bereits so und kann sagen: Ich liebe es! Wenn wir die Idee teilen, dann hören wir: „Oh, wow, bis wann wird das fertig sein?“ Ich bin der Überzeugung – so, wie ich es damals bei Design Hotels war –, dass dies das zukünftige Lebensmodell sein wird. Grundsätzlich ist es immer eine Frage der Werte.

Welche Werte sind das?

Slow bedeutet nicht, dass wir extrem langsam sind. Aber wir sind extrem kritisch in den Themen, mit denen wir uns beschäftigen. Unser Slogan „‚Cultivating arts, crops and inner gardens“ ist kein Urlaubsthema – das ist eine Lebensweise. In diesen drei Kapiteln der Erfahrung bringt man alles unter, was man in der guten Hospitality bieten möchte: Kunst, Ernährung und Persönlichkeitsentwicklung. Das geht fließend über von der Reise zu einem selbst bis hin zum Umgang mit den Mitarbeitern bei der Bildung eines Teams.

Erzählen Sie uns doch bitte mehr darüber!

Wir beschäftigen uns damit, welchen Part die Religionen in den vergangenen Jahrhunderten übernommen, aber zuletzt zunehmend verloren haben. Heute sind wir ja öfter beim Yoga als in der Kirche. Architekten entwerfen Orte für diesen inneren Rückzug, mit allem, was dazugehört. Und damit das Ganze nicht zu klosterhaft wird, gehören halt die Künste mit dazu.

Fehlen noch die „Crops“, die Pflanzen …

Meine Partnerin hat Ernährungswissenschaften und Naturheilkunde studiert, das heißt, das ganze Thema von Ernährung bis Biohacking ist bei uns ein zentrales. In unserem Haushalt findet man weder Zucker noch Milchprodukte oder Gluten. Deshalb war es das Ziel von „La Granja“, der Farm auf Ibiza, von Anfang an erfolgreich eine organische Farm zu betreiben und die Gäste in die Arbeit mit einzubinden. Wenn jeder weiß, was er isst, und an frische Produkte rankommt, dann ist das schon die halbe Miete.

Sie stehen für Innovation. Was braucht es dafür?

Wenn es bei den großen Unternehmen darum geht, etwas Neues zu machen, dann gewinnt immer der, der die sicherste Zahl bringt. So entsteht keine Innovation – niemals! Innovation hat etwas mit Mut zu tun und nicht damit, was jemand vorher schon mal gemacht hat. Auch wir wissen noch nicht, wie das funktionieren wird, was wir anbieten wollen. Erst jüngst haben wir gesagt, wir könnten schon eine Nummer sexyer sein. Aber das ist mit Karotten irgendwie schwierig.

Was ist Ihnen persönlich besonders wichtig?

Ich hoffe, dass wir nicht wieder zurückfallen in dieses total verrückte Um-die-Welt-Jetten. Da geht das Thema Nachhaltigkeit nämlich los: bei einem selbst. Ich versuche, es in meinem Leben ganz bewusst einzuhalten. Hier in Lissabon brauche ich kein Auto, da gehe ich entweder zu Fuß, setze mich in ein Uber oder ein Bolt. Und: Wir lassen uns mehr Zeit. Ich bin im Sommer zwei Monate lang mit den Kids im Auto von Deutschland nach Portugal gefahren. Und wir waren einen Monat lang auf Sizilien. So kriegt man einen anderen Bezug zu Zeit und kann sich auch anders an Sachen erinnern; viel klarer und detailreicher. So, wie die Urlaube früher waren: Als ich ein Kind war, sind wir mit meinen Eltern in die Gegend nördlich von Rimini gefahren. Das waren für mich die besten Wochen des Jahres!

Claus Sendlinger

  • Herkunft
    Claus Sendlinger wurde 1963 in Augsburg, Deutschland, geboren und startete seine Karriere im PR- und Eventbereich mit Fokus auf Hotels und Clubs.
  • Design Hotels
    Mit 30 Jahren gründete der Visionär Sendlinger Design Hotels als Dachmarke für unabhängige, authentische Hotellerie.
  • Erfolgsgeschichte
    Heute zählt die Gruppe 300 Hotels in rund 60 Ländern – Zeit für den „Placemaker“, sich neuen Aufgaben zu widmen: Nach über 20 Jahren tritt er als CEO zurück und erschafft heute mit einem Kollektiv an Kreativen neue Orte der Begegnung und Harmonie.
  • Neue Aufgaben
    Seit über zehn Jahren lebt und arbeitet Universalgestalter Sendlinger bereits als globaler Nomade in einer Führungsposition.
  • Nächster Wurf
    In Berlin, direkt an der Spree, eröffnet das „Slow“-Projekt „Marina“: ein kreativer Campus für Wellbeing, Kultur und Nachhaltigkeit.

Das Interview führte Heidi Rietsch.

Dieser Artikel erschien in der Falstaff TRAVEL Ausgabe Winter 2021/22.

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